Ein Brief an das Buch, das mein Leben schreibt

Über viele Jahre bestand meine Schreibroutine ganz einfach daraus, regelmäßig Tagebuch zu schreiben. Ganz sicher hat das meinen Stil geformt – als “Schreibroutine” hätte ich es allerdings niemals bezeichnet. Mein Tagebuch war meine Therapie nach dem Ende der echten. Ein Brief.

Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich dich beim Schreiben direkt angesprochen hab. Meistens nur dann, wenn ich besonders dankbar war. Du bist keine Person und doch irgendwie schon. Du bist ich und doch irgendwie nicht, denn du bringst einen Mehrwert, der ohne dich fehlen würde: Klarheit über mich und meine Umwelt.

Ich weiß nicht, wie ich die Welt verarbeiten würde, wenn ich nur das gesprochene Wort dafür hätte. Es gibt Wochen und Monate, da nutz ich dich nicht. Aber wenn ich den Stift wieder in die Hand nehme, weiß ich sofort, wofür: Was ich erlebe ergibt viel mehr Sinn, nachdem ich es aufgeschrieben hab. Wenn ich dich nicht ab und zu frag “Was beschäftigt mich grade?”, navigier ich sehr planlos durchs Leben.

Mehr als ein Mal hast du mich aus meinem eigenen Sumpf gerettet. Wenn mir Gedanken und Gefühle wild durch den Körper schießen, dann bremst du sie aus – gedrosselt auf das Tempo meiner schreibenden Hand. Wenn ich in der von ständiger Ablenkung überbordenden Welt zu viel aufgenommen und zu wenig rausgelassen hab, dann weiß ich, wohin mit dem inneren Druck.

Und noch was: Es gibt keine Löschtaste bei Stift und Papier. Keinen Filter, keine Überarbeitung, keine Redaktion. Deine Zeilen klingen zwangsläufig wie meine Gedanken. Wenn ich in deinen Seiten blätter, spür ich, was beim Schreiben in mir vorgegangen ist. Weil du Erinnerungen weckst, ja. Aber vielleicht heißt das auch: Ich kann mit Worten Gefühle transportieren. Falls es wirklich stimmt, dann hast du es mir beigebracht. Du bist ein Schutzwall gegen die Zweifel daran.

Es gibt da diesen Psychologen und Schreibdidaktiker namens Otto Kruse. In einem seiner Bücher nennt er das Schreiben sinngemäß den “Königsweg, um denken zu lernen”. In meiner Erfahrung hat er damit sehr recht. Gedanken sind flüchtig, Papier und Tinte sind es nicht. Erst wenn ich sie aufschreibe sehe ich, ob die Luftschlösser in meinem Kopf wirklich logisch sind. Dafür werd ich dich immer brauchen.

Danke.

x, Annika 🌞

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